Das biopsychosoziale Modell in der Praxis: Eine kritische Reflexion

Abstract

Die biopsychosoziale Modellvorstellung gilt als integrale Erklärungsfigur für psychische Störungen und ihre Behandlung. Wenn darin Erkenntnisse eingeordnet werden, die aus unterschiedlichen Wissenssphären stammen, entsteht die Illusion einer Vollständigkeit des Bildes vom Menschen. Noch gibt es aber keine Metasprache, die den einzelnen Erkenntnisbausteinen einen definierten Bedeutungsraum im Modell zuweisen könnte. Es gibt (noch) keine einheitliche wissenschaftliche Sprache für alle Erkenntnisdomänen. Argumente gegen einen Generalanspruch der naturwissenschaftlichen Domäne, eine Deutungshoheit auch für die soziale und psychische Domäne zu besitzen, werden in historischer und theoretischer Perspektive vorgebracht. Demgegenüber werden zehn praktische Argumente für eine Dialektik des Umgangs mit biopsychosozialen Perspektiven in der Psychotherapie dargestellt. Die praktische Umsetzung des biopsychosozialen Modells kann sich nicht nur auf kausale Erklärungen in unterschiedlichen Wissensdomänen stützen, sie muss auch das Problem der Hermeneutik in den Blick nehmen. Therapeutisches Handeln setzt auch richtiges Verstehen voraus. Die selbstreflexive Gewichtung und Würdigung unterschiedlicher Befunde geschieht nicht aufgrund einer Theorie, sondern auf der Basis einer komplexen Praxiserfahrung. Erfahrungslernen, Selbsterfahrung und Supervision sind Werkzeuge zur Verbesserung der Praxis – wenn sie sich auf die Evidenzbasierten Wissenssysteme stützen können. Die Anerkennung des biopsychosozialen Systems als Mehrsprachenmodell im Sinne der Wittgenstein´schen Sprachspiele können eine Toleranz zwischen unterschiedlichen Sichtweisen der Person erzeugen und ein Klima der Wechselseitigkeit schaffen.